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Authentisch statt aalglatt: Schulzbiograph Manfred Otzelberger diskutierte über den Kanzlerkandidaten

Veröffentlicht am 05.07.2017 in Allgemein

Ein ehemaliger Buchhändler aus Würselen, der Kleinstadt bei Aachen, schickt sich an, seinem wilden Leben ein weiteres Kapitel hinzuzufügen, nämlich Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden. Die Rede ist von Martin Schulz: Schulabbrecher, gescheiterter Fußballer, trockener Alkoholiker. Was sich nach Lebensabschnitten einer gebrochenen Existenz anhört, sind die Stationen im Leben einer Kämpfernatur.

Der Mann mit dem markanten Bart und dem Allerweltsnamen arbeitete sich vom Bürgermeister zum Präsidenten des EU-Parlaments hoch, bevor ihn die SPD zum Parteichef und Kanzlerkandidaten kürte. Martin Schulz ist ein Paradebeispiel dafür, was man in Deutschland mit eisernem Willen erreichen kann. „Authentisch, nicht aalglatt, ein seltener Typ Politiker, ein Mensch mit Charme und Charisma, mit dem man gern ein Bier trinken gehen möchte, weil er zum Lachen nicht in den Keller geht.“ So beschreibt ihn jemand, der ihn über 20 Mal getroffen hat: Manfred Otzelberger, Journalist bei der „Bunten“ und dort zuständig für die großen Politikerportraits. Der Oberfranke, der lange in Bayreuth gearbeitet hat, war nach einem Interview in Brüssel im Jahr 2012 so beeindruckt von Schulz, dass er den Kontakt hielt und im Frühjahr die erste Biographie im Wahljahr über ihn verfasste – mit vielen Details aus seinem Privatleben.

„Martin Schulz – Der Kandidat“ (Herder Verlag) lautet der Titel des Buches, das bereits tausendfach über die Ladentheken deutscher Buchhändler wanderte. Daher war das Interesse auch groß, als der Boulevardjournalist im Künneth-Palais in Gefrees aus der Biographie las und mit den Zuhörern über das bewegte Leben von Martin Schulz diskutierte. Staatssekretärin Anette Kramme hatte Manfred Otzelberger eingeladen, denn auch sie ist vom Politiker und Mensch Martin Schulz beeindruckt: „Der richtige Mann zur richtigen Zeit.“ Manfred Otzelberger gab einen tiefen Einblick in das Leben des SPD-Chefs, der so ganz anders ist als die nüchterne Angela Merkel: temperamentvoll, kämpferisch, risikofreudig. Nur den unbedingten Willen zur Macht teilt er mit ihr.

Schulz halte nichts von „Schwurbeldeutsch“, spreche ein Deutsch mit klaren Hauptsätzen, die jeder versteht. Dass er kein Abitur habe, störe niemanden. Als „Instinkteuropäer“ aus dem Dreiländereck Deutschland/Niederlande/Belgien verkörpere Schulz dass, was dem Typus Politiker in Deutschland seit langem fehle: „Lust und Leidenschaft, er brennt für die Idee Europa wie vor ihm vielleicht nur Helmut Kohl.“

Jeweils zehn Thesen hatte der Journalist im Gepäck, warum oder warum eben auch nicht Schulz Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden kann. „Er kann sich an den eigenen Haaren aus dem Dreck ziehen‘“, meint Otzelberger, Schulz lebt dieses Prinzip mit eiserner Disziplin und unglaublicher Zähigkeit. Nach Jahren des Alkoholmissbrauchs hat er von einem Tag auf den anderen sein Leben verändert, später auch das Rauchen aufgegeben, sogar 13 Kilo abgespeckt. In langen politischen Debatten am heimischen Küchentisch mit seiner CDU-Mutter und dem Rest der siebenköpfigen Familie, die alle Sozis waren, habe er sein Weltbild geformt. „Er weiß, wie es ist ganz unten zu sein, Jusos, seine Geschwister und Freunde haben ihn als jungen Mann vor dem totalen Absturz gerettet. Kein Politiker verkörpert so gut wie er das für Sozialdemokraten so wichtige Prinzip der zweiten Chance. Das hat ihm Einfühlungsvermögen für die Sorgen des kleinen Mannes mit auf den Weg gegeben“, meint Otzelberger.

Aber kann ein solches Achterbahnleben den deutschen Wähler überzeugen? Waren 100 Prozent Zustimmung bei den streitlustigen und bisweilen zur Selbstdemontage neigenden Genossen, die sich an ihrem Wiederaufstieg berauschten, ein süßes Gift? Wie geht der Kandidat psychisch damit um, nach dem Raketenstart und Medienhype nun wieder auf dem harten Boden des politischen Tagesgeschäfts gelandet zu sein? Diese Fragen diskutierte Manfred Otzelberger im Anschluss mit Anette Kramme, die Schulz schon aus dem Parteivorstand kennt. Der Rheinländer sei ein Mensch mit starkem Charakter, unbeugsam und furchtlos. Er zeige Warmherzigkeit und Wertschätzung seinen Mitmenschen gegenüber und ist persönlich ein angenehmer und sympathischer Mensch, so Kramme. Deshalb habe er auch 100 Prozent bekommen, im Gegensatz zu seinem Vorgänger Sigmar Gabriel.

Den Einbruch in den Umfragen erklärte Kramme mit den drei verlorenen Landtagswahlen und dem Eindruck, dass die SPD inhaltlich erst spät konkret wurde – auch wenn die Union noch länger brauchte. „Das hat der Presse zu lange gedauert und das hat sie Martin Schulz spüren lassen“. Sie traue der SPD für die Bundestagswahl viel zu, Angela Merkel, neben der sie manchmal am Kabinettstisch als Vertreterin von Arbeitsministerin Andrea Nahles sitze, sei aber eine harte Gegnerin: „Sie hat alle Krisen bewältigt, auch wenn man nicht den Eindruck hatte, dass sie das wirklich steuern konnte. Sie besitzt zwar keine rhetorische Ausstrahlung, aber sie beherrscht auch die Kunst, schwierige Situationen auszusitzen. Das ist aber nicht das Ding von Martin Schulz, er ist ein Macher, der schwierige Dinge beherzt anpackt“.

Nach reger Diskussion wurde deutlich, dass Martin Schulz die politische Landschaft in Deutschland bewegt wie lange niemand mehr vor ihm. „Die SPD muss sich ein Wunder zutrauen und attackieren. Noch gibt es keine Wechselstimmung, Schulz liegt zurück, aber er hat ein ähnlich großes politisches Format wie Angela Merkel und wird alles geben. Schon beim Fußball galt er als Kampfschwein, das sind die, die nie aufgeben“, meinte Otzelberger. Und da sich ein Drittel der Wähler erst in der Woche vor der Wahl entscheide, sei das Rennen immer noch offen.

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